Wir alle haben so etwas schon mal erlebt: während einer Unterhaltung zieht der Gesprächspartner sein Smartphone aus der Tasche und fängt, während wir mit ihm sprechen, damit an, auf dem Gerät herum zu tippen, um nebenbei eine persönliche Nachricht zu verschicken. Die Antworten des Gesprächspartners werden dann zunehmend einsilbig und unkonzentriert, sodass das Gespräch nicht produktiv weitergeführt werden kann. Das ist ärgerlich und unhöflich, aber veranschaulicht sehr schön, wie schnell wir an unsere mentalen Grenzen stoßen. Denn sowohl das Führen eines persönlichen Gesprächs als auch das Verfassen einer Kurznachricht auf dem Smartphone sind Aufgaben, die einen Großteil unserer mentalen Ressourcen beanspruchen. Werden mehrere solcher Aktivitäten gleichzeitig ausgeführt, entsteht ein Konflikt, weil unser Gehirn immer nur eine anstrengende Aufgabe fokussiert steuern kann.
Das menschliche Gehirn verfügt über einen begrenzten Vorrat an mentalen Ressourcen. Diese Ressourcen werden in der Regel auf verschiedene Aktivitäten verteilt, die sensorischer, körperlicher oder kognitiver Natur sein können. Sensorische Aktivitäten sind solche, bei denen wir vorrangig passiv Reize verarbeiten, also beispielsweise Musik hören oder Gerüche wahrnehmen. Körperliche Aktivitäten sind solche, bei denen wir uns wenig bewegen – wie z. B. beim Tippen auf einer Tastatur – oder viel bewegen, wie beim Radfahren oder Sport treiben. Mit kognitiven Aktivitäten ist vor allem das bewusste Nachdenken gemeint, z. B. wenn wir an Aufgaben denken, die noch zu erledigen sind. In den seltensten Fällen üben wir nur eine einzelne Aktivität zu einem gegebenen Zeitpunkt aus. Meistens jedoch laufen mehrere Aktionen gleichzeitig ab – beispielsweise wenn wir während des Autofahrens Musik hören oder beim Spazierengehen mit jemandem sprechen. In solchen Fällen, also wenn mehrere Aktivitäten parallel ablaufen, muss unser Gehirn, das den Ablauf dieser Prozesse steuert, seine Ressourcen verteilen. Dieser Verteilungsprozess wird in der Psychologie als „divided attention theory“ oder Theorie der selektiven Aufmerksamkeit diskutiert: man geht davon aus, dass der Verteilungsmechanismus ungerecht ist – das heißt: laufen mehrere Aktivitäten gleichzeitig ab, können sie nicht die gleiche Menge mentaler Ressourcen erhalten. Vielmehr steht stets eine Aktivität im Vordergrund, sodass sich die andere(n) in den Hintergrund verschieben.
Folgt man der Theorie der selektiven Aufmerksamkeit, gibt es immer nur eine Aufgabe, die wir im Fokus unserer Aufmerksamkeit erledigen können. Das Modell des „Interaction-Attention-Continuum“ der Autorinnen Bakker und Niemantsverdriet verbindet die psychologische Theorie mit der Interaktionsgestaltung und beschreibt neben der fokusierten Interaktion im Zentrum der Aufmerksamkeit auch periphere und implizite Interaktionen (Bakker/Niemantsverdriet 2016: 3):
Alle drei Arten von Interaktion können bei der Erledigung einer Aufgabe gleichzeitig ablaufen. So können wir beispielsweise fokussiert nach Inhalten auf einer Webseite suchen und dabei peripher Eingabegeräte wie Tastatur, Maus oder Touchscreen bedienen. Zu Konflikten kommt es immer dann, wenn zwei mental aufwendige Interaktionen gleichzeitig ausgeführt werden: man kennt das heutzutage beispielsweise aus Situationen, in denen Personen während eines Gesprächs versuchen, andere Aufgaben, z. B. mithilfe ihres Smartphones zu erledigen. Das ziellose Durchstöbern eines Instagram-Feeds lässt sich – weil es eine einfache Interaktion im peripheren Aufmerksamkeitsbereich ist – noch recht gut mit einem gleichzeitig stattfindenden persönlichen Gespräch vereinbaren. Das fokussierte Schreiben einer Kurznachricht, das mehr mentale Ressourcen erfordert, ist während einer Unterhaltung deutlich schwieriger. Unter einem solchen Kampf um den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit leidet dann die Qualität des persönlichen Gesprächs oder die der geschriebenen Nachricht.
Hinter jeder Interaktion, die wir bewusst initiieren, steht ein Bedürfnis – z. B. das Bedürfnis nach Information, nach Unterhaltung oder nach Konsum. Für die Erfüllung dieses Bedürfnisses stehen uns verschiedene analoge und digitale Mittel zur Verfügung. In bestimmten Situationen fällt die Wahl auf ein digitales Mittel wie eine Webseite oder App, weil es zu einem gegebenen Zeitpunkt ein verfügbarer und einfacher Weg ist. Um das übergeordnete Bedürfnis zu erfüllen, formulieren wir mental Absichten – je nachdem wie intensiv wir uns schon mit unserem Bedürfnis beschäftigt haben. So können wir, um z. B. unser Informationsbedürfnis zu befriedigen, nach spezifischen Informationen suchen – bspw. nach tagesaktuellen Nachrichten aus dem Bereich Politik – oder aber unspezifisch vorgehen und erstmal stöbern, um herauszufinden, welche Informationen uns gerade am meisten interessieren. Die Autoren Blair-Early und Zender beschreiben das als „Intention Continuum“ und stellen an die beiden Enden dieser Dimension den Jäger (Hunter) und den Stöberer (Browser) (Blair-Early/Zender 2008: 92):
Die Erkenntnisse zu Aufmerksamkeit und Absicht aus der psychologischen Forschung haben wichtige Auswirkungen auf die Konzeption und Gestaltung von Interfaces. Um keine Konflikte in der Verteilung mentaler Ressourcen zu verursachen, müssen wir herausfinden, welche Aufgaben bei der Benutzung eines digitalen Produkts im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und welche in der Peripherie stattfinden. Dafür ist ein profundes Verständnisse der Anwender unerlässlich – und das kann nur erreicht werden, wenn die Zielgruppen in ausreichendem Maße untersucht werden. Ziel einer solchen Nutzerforschung sollte sein, bspw. folgende Fragen zu beantworten: Welche Aufgaben stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit? Welche Aufgaben und Aktivitäten werden gleichzeitig ausgeführt? Wann kommt es bei bestehenden Lösungen zu Verständnisproblemen und Konflikten? Außerdem lassen sich durch solche Untersuchungen die Absichten bestehender und potenzieller Nutzer besser verstehen: Welche Nutzer haben spezifische Absichten, welche unspezifische? Wie reagiert die gestalterische Umsetzung auf diese unterschiedliche Absichten? Nur wer zum einen die psychologischen Grundlagen kennt und weiß, wie mentale Ressourcen verteilt werden, und sich gleichzeitig empirisch ein gutes Verständnis der Anwender eines digitalen Produkts verschafft, kann exzellente gestalterische Lösungen entwickeln, die die Bedürfnisse der Benutzer erfüllt und nachhaltig zu einer guten „User Experience“ führt.
Bakker, Saskia; Niemantsverdriet, Karin: The Interaction-Attention Continuum: Considering Various Levels of Human Attention in Inter- action Design, in: International Journal of Design 10 (2), 2016, S. 1–14
Blair-Early, Adream; Zender, Mike: User Interface Design Principles for Interaction Design, in: Design Issues (24) 1, 2008, S. 85–107
Kahneman, Daniel: Thinking, Fast and Slow, London 2012
Norman, Don: The Design of Everyday Things. Psychologie der alltäglichen Dinge, München 2016